Von Realitätsverlust verschrobene Selbstwahrnehmung im NATO-Bad der Illusionen
Selten war der Protest gegen die Münchner Sicherheitskonferenz so groß und so breitgefächert wie dieses Jahr. Aber ebenso war die Konferenz selbst noch nie so choreographiert, synchronisiert und nicht zuletzt US-dominiert wie die diesjährige. Dies zeigte sich unter anderem daran, dass beispielsweise Russland und der Iran – abgesehen von Vertretern der dortigen Opposition – nicht eingeladen waren, aber dennoch die größte US-Delegation seit Bestehen der Konferenz anreiste. Neben Kongressvertretern erschienen US-Vizepräsidentin Kamala Harris, Verteidigungsminister Lloyd J. Austin und Außenminister Antony Blinken.
Sascha A. Roßmüller
Mit etwa 700 Konferenzteilnehmern und rund 1.000 akkreditierten Journalisten zählte die diesjährige 59. Münchner Sicherheitskonferenz zu den größten dieser transatlantischen Filterblasen-Veranstaltung. Mehr als 40 Staats- und Regierungschefs sowie 90 Minister waren zu der mit 130 Nebenevents bestückten Veranstaltung angereist. Gleich dem Titel des jüngsten Munich Security-Reports 2023 lautete das Veranstaltungsmotto „Re:vision“. Vertreter der größten parlamentarischen Oppositionspartei AfD wurden erstmals nicht zugelassen, was belegt, dass die Veranstaltung nicht der Meinungsfindung im Rahmen kontroverser Debatten diente, sondern mehr als Wallfahrt zur quasi-liturgischen Absegnung der anstehenden geostrategischen Waffengänge zu verstehen war.
Streumunition und Phosphor-Brandwaffen
Der Gipfel auf dem diesjährigen Münchner Kriegsrat war die Forderung des ukrainischen Vizeregierungschefs Olexander Kubrakow nach völkerrechtlich geächteter Streumunition und Phosphor-Brandwaffen, die Kiew auf eigenem Staatsgebiet einzusetzen wünschte. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba erklärte gegenüber dpa, dass er keine rechtlichen Hindernisse erkennen könne, da die Ukraine keine Vertragspartei des diesbezüglichen Oslo-Übereinkommens wäre. Zwar erteile Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg diesem jüngsten ukrainischen Waffenbegehren (noch) eine Absage – doch wie lange wird diese bestand haben? Beispielsweise führte auch US-Präsident Joe Biden noch am 11. März 2022 aus: „Den Gedanken, Panzer in die Ukraine zu liefern, nennt man Dritter Weltkrieg“. Am 25. Januar 2023 verkündete er dann die Lieferung von selbigen.
Es ist nicht neu, dass vormalige rote Linien zunehmend zu Wanderdünen mutieren, wenn es um die geostrategischen Interessen der USA geht. Bereits seit geraumer Zeit hört man immer wiederkehrende oberflächliche Phrasen bezüglich derer sich eine gewisse Begriffsabnutzung abzeichnet, doch entscheidend ist festzustellen, dass das Völkerrecht versucht wird, durch eine sogenannte „regelbasierte Ordnung“ zu ersetzen, deren Regeln die USA bestimmen.
Weiterführende Informationen:
»Die post-hegemoniale Welt: Gerechtigkeit und Sicherheit für alle«
»Vereinigte Staaten sind die Macht der Un-Ordnung«

Schweiz und Brasilien liefern keine Gepard-Munition
Der britische Premierminister Rishi Sunak befeuerte zumindest die Kampfjet-Debatte, indem er kundtat, Großbritannien werde das erste Land sein, das der Ukraine Waffen mit größerer Reichweite zur Verfügung stelle. Bruno Lété, Senior Fellow für Sicherheit und Verteidigung beim German Marshall Fund der USA in Brüssel, äußerte bereits im Vorfeld der Sicherheitskonferenz gegenüber der WirtschaftsWoche die Einschätzung, dass die Lieferung von Kampfjets an die Ukraine realistisch sei.
Indem jedoch im Zuge des Ukraine/Russland-Krieges immer mehr deutlich wird, mit welchem Lieferkettenproblem der Westen hinsichtlich seiner Militärproduktion konfrontiert ist, rückte man dem Zwei-Prozent-Ziel der NATO bezüglich der Militärausgaben gemessen am jeweiligen Nationalhaushalt dadurch natürlich näher, ungeachtet der Frage, ob diese Milliardenbeträge nicht sinnvoller Verwendung finden könnten. Der neue Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hält auch das 100-Milliarden-Euro Sondervermögen, wie man Schulden neuerdings tituliert, für nicht ausreichend: „Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen.“ Deutschland werde sie dabei unterstützen, „so lange, wie es nötig ist“, tönt Pistorius. Allerdings weigern sich die Schweiz und Brasilien Gepard-Munition an Deutschland zu liefern.
Westen verlor den Wirtschaftskrieg
„Vertreter der Rüstungsindustrie waren gefragte Gesprächspartner“, bilanzierte die Tagesschau zur Sicherheitskonferenz. Über die Menschen spricht kaum mehr jemand. Jean-Marie Jacoby schrieb im Magma-Magazin von Kiews „hohen Menschenverluste im Fleischwolf der Front“, und verwies auf die bereits 13. Rekrutierungswelle, bei der das Alter der Eingezogenen auf 13 gesenkt und auf 75 erhöht wurde.
Gerade Deutschland sollte aufgrund seiner geschichtlichen Volkssturm-Erfahrung wissen, dass dies kein Kennzeichen einer siegreich voranschreitenden Armee ist. Und den Wirtschaftskrieg gegen Russland hat der Westens längst verloren. Während der Westen mit Lieferengpässen, Schuldenkrise und Inflation kämpft, und speziell für Deutschland der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, gegenüber der Rheinischen Post bestätigte, dass der Ukraine-Krieg und die damit verbundene Explosion der Energiekosten Deutschland im Jahr 2022 fast 2,5 Prozent oder 100 Milliarden Euro an Wirtschaftsleistung kosten, Tendenz steigend, verkündete der Internationale Währungsfonds, dass Russland ein Wirtschaftswachstum verzeichne – trotz der westlichen Sanktionspolitik.
Weiterführende Informationen:
Drei Gipfeltreffen – dennoch: Im Westen nichts Neues!
Münchner Sicherheitskonferenz: Was die Medien verschweigen
9. Internationale Sicherheitskonferenz in Moskau: Putins Kritik an der NATO

Besagte Sanktionen werden auch nicht an Schlagkraft gewinnen, nachdem sich nun auch die Interbankensysteme der Russischen Föderation und dem Iran zusammengeschlossen haben. Hinzukommt, dass Organisationen wie New Development Bank, BRICS und SOC zahlreiche Anträge auf neue Mitgliedsländer verzeichnen, wobei hier weniger Widerstand zu verzeichnen ist als im Falle Schwedens und der NATO.
Die westliche von Realitätsverlust verschrobene Selbstwahrnehmung scheint im NATO-Bad der Illusionen auch völlig auszublenden, was militärpolitisch andernorts vor sich geht, während man sich in München gegenseitig Endsiegparolen vorträgt, in völliger Verdrängung, dass die „Supermacht“ USA erst unlängst in Afghanistan kläglich gegen die Sandalen-Armee der Taliban versagte. Frankreichs Armee wird aus Burkina Faso verdrängt, Moskau verhandelt mit Somalia einen Flottenstützpunkt am Horn von Afrika und führt mit China Flottenübungen am Kap der guten Hoffnung durch.
Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt, aber man mag schwerlich noch an einen Sieg der Vernunft im Westen hoffen.