Der Publizist Günter Maschke über »Weltinnenpolitik«, die Illusionen der USA und den Terrorismus
DS: Der italienische Philosoph Giorgio Agamben schrieb in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« vom 19. April diesen Jahres, dass sich die Vereinigten Staaten »des Ausnahmezustandes nicht nur als eines Instrumentes der Innenpolitik, sondern auch und vor allem, um ihre Außenpolitik zu legitimieren« bedienen würden. War der Irak-Krieg somit die letzte Etappe auf dem Weg in die »Weltinnenpolitik«?
Maschke: »Weltinnenpolitik«, wohl ein von Carl Friedrich von Weizsäcker geprägtes Wort, halte ich für eine unglückliche Bezeichnung, da wir keinen »Weltstaat« haben und auch keinen bekommen werden. Die Forderung nach mehr »Weltinnenpolitik« ist im Grunde nur die Tarnung für den US-Imperialismus, der die Staatlichkeit überall aushebeln möchte, um seine gesellschaftlichen Standards durchsetzen zu können: Alle einzelnen Menschen unterwerfen sich sozialen und ökonomischen Spielregeln, über die die einzig relevante Macht verfügt und die nur von ihr interpretiert werden. Also: Gehorsam, aber keinen Schutz, – so die »Ideal«-Vorstellung gewisser US-amerikanischer Ideologen. Das ist gerade kein »Hobbes«-Programm, sondern im Ergebnis die Propagierung des Naturzustandes.
Der Irak-Krieg war nicht die letzte Etappe auf diesem Weg in die Chaotisierung der internationalen Beziehungen, sondern der erste, bewusste Schritt dahin – weil man glaubt, den Prozess zugunsten der eigenen Interessen steuern zu können.
DS: Es gibt in der Bush-Administration eine Gruppe von Intellektuellen und Politikern wie Wolfowitz, Perle, Rumsfeld und Cheney, die das Konzept eines »liberalen Imperialismus« vertreten und auf dieser Basis auch dazu bereit sind, Angriffskriege gegen von ihnen definierte, sogenannte »Schurkenstaaten« zu führen, die also sozusagen den Ausnahmezustand als Weltordnung fordern. Wird sich diese Gruppe in der amerikanischen Politik auch weiterhin durchsetzen?
Maschke: Diese Gruppe wird sich durchsetzen, wenn sie den Erfolg – und sei es kurzfristig – für sich hat. D.h. wenn die Bilanz für die Vereinigten Staaten ökonomisch stimmt und es wenig US-amerikanische Opfer gibt. Falls sich eine Anti-Koalition Paris – (Berlin?) – Moskau – Peking festigt, wird diese Gruppe keinen Erfolg haben; auch dann nicht, wenn die Kosten für die US-amerikanischen Wähler zu hoch erscheinen.
Weiterführende Informationen:
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Drei Gipfeltreffen – dennoch: Im Westen nichts Neues!

DS: Wird Ihrer Ansicht nach im Irak ein politisches Modell nach amerikanischem Muster von Bestand sein oder haben die Vereinigten Staaten mit ihrem Angriffskrieg – ähnlich wie 1979 im Iran – nur den Geist des schiitischen Fundamentalismus aus der Despotie laizistischer Herrschaft befreit?
Maschke: Für die Vereinigten Staaten wird es darauf ankommen, ob es ihnen gelingt, die arabische Welt in der für sie typischen Uneinigkeit zu halten. Die Gefahr eines wirklichen religiösen Fundamentalismus ist meines Erachtens nur eine Propagandabehauptung der Vereinigten Staaten. Es gibt ihn, aber er wird die arabische Welt nicht wirklich beherrschen können. Die Despotie stört die USA nur, weil sie ihr Eindringen behindert (bzw. wenn sie es verhindert).
DS: Inwieweit konnte denn der zur Macht gekommene politische Islamismus beispielsweise im Iran, in Pakistan oder unter den Taliban in Afghanistan die in ihn gesetzten Erwartungen überhaupt erfüllen?
Maschke: Diese drei politischen Islamismen sind doch völlig verschiedenartig und betreiben bzw. betrieben ganz unterschiedliche Politiken. Die Politik bestimmt also, wie diese Religion benutzt und interpretiert wird und nicht umgekehrt. Man muss jedes Land zunächst einzeln betrachten. Früher gab es auch nicht »den« christlichen Staat, sondern eine Vielzahl »christlicher Staaten«, die sich oft keineswegs grün waren.
Wenn es hier gemeinsame Erwartungen gab, dann die, sich aus der Umklammerung durch den von den Vereinigten Staaten dominierten Imperialismus zu lösen. Das hätten die Deutschen mindestens so nötig wie die betreffenden Länder, verstehen es aber weit weniger als diese. Aufgrund unseres Verhaltens sollten wir nicht erstaunt sein, als Feinde betrachtet zu werden: Der Vasall meines Feindes ist mein Feind.
DS: Der französische Soziologe Emmanuel Todd, der auch den Untergang der Sowjetunion vorhersagte, hat nun ein Buch mit dem Titel »Die USA. Ein Nachruf« verfasst. Er bezeichnet Kriegsführung und Militärstrategie der USA als »theatralischen Mikromilitarismus«, der sein Mütchen nur noch an schwachen Gegnern wie der durch eine zwölfjährige Blockade geschwächten, gescheiterten Modernisierungsdiktatur Irak kühlen könne. Befindet sich die vermeintliche Supermacht USA tatsächlich im Niedergang?
Maschke: Viele Anzeichen sprechen dafür, dass die USA im Niedergang sind, etwa wenn man ihren Prozentanteil an der Weltproduktion betrachtet, der seit 1950 immer mehr gesunken ist. Andererseits ist ihr Machtvorsprung vor Russland, China usw. größer geworden. Diesen Machtvorsprung wollen sie jetzt sichern. Dazu scheinen sie aber auf Hilfe (sprich: Komplizenschaft) immer mehr angewiesen zu sein (also auf britische usw. Hilfe).
Insofern ähnelt ihre Lager der Großbritanniens um ca. 1900, also »burden sharing« (Lastenteilung) propagiert wurde und Kanada, Australien usw. immer höhere Anteile der Kosten des Imperiums tragen sollten.
Weiterführende Informationen:
Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst
Post an die DS: Säbelrasseln beenden – NATO endlich auflösen!
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DS: Wie bewerten Sie eigentlich das kurze, dafür aber heftige Aufflackern der Friedensbewegung? Waren da alles Leute, die sich mit Jürgen Habermas darüber empört haben, dass die USA mit ihrem unilateralen Vorgehen sozusagen gegen die Hausordnung der Weltrepublik verstoßen haben, oder klang da durchaus auch ein amerikakritischer, national-emanzipatorischer Impuls mit?
Maschke: Der übliche Friedensbewegte leidet ja an einer »Schizophrenie«: er wirft den Vereinigten Staaten die Verletzung der Hausordnung der Weltrepublik vor, die diese lange propagierten, als sie sie zu beherrschen glaubten. Die USA werden immer noch zu wenig begriffen als eine den »Rest der Welt« bedrohende Macht, als Macht der Un-Ordnung (weil sie zu einem wirklich weltweit befriedenden Imperialismus zu schwach sind und sein werden). Ein beträchtlicher Teil der Kritik an den Vereinigten Staaten meint deren »Untreue« gegenüber den einst selbst verkündeten Regeln und ist insofern falsches Bewusstsein, weil diese Regeln illusorisch und demagogisch sind.
Der amerikakritische Impuls ist also zu einem Gutteil falsch basiert und kann deshalb nur dann »national-emazipatorisch« wirken, wenn er sich der illusorischen Bestandteile seiner Kritik entledigt. Heute besteht dieser Impuls zumindest in Deutschland überwiegend aus einem Affekt gegen die Macht überhaupt. Ohne Macht aber lässt sich nichts machen, auch gerade keine nationale Emanzipation.
DS: Sie haben schon 1973 ein Buch mit dem Titel »Kritik des Guerillero. Zur Theorie des Volkskrieges« verfasst, und damals – es war die Zeit eines Che Guevara, Ho Chi Minh und Fidel Castro – Ihrer Überzeugung Ausdruck verliehen, dass man von einem Zeitalter des »Guerillero« sprechen könne. Stehen wir jetzt – insbesondere in der islamischen Welt – in einer neuen Ära des Partisanen?
Maschke: Es gab einmal ein Zeitalter des Guerillero, als die Dritte Welt vorwiegend agrarisch war. Heute vergroßstädtert die Dritte Welt – zu der die arabischen Staaten kaum gehören! – rapide, so dass der Terrorist immer wichtiger wird. Ob es in seinem Gefolge zu neuen Befreiungsbewegungen – welcher Art? – kommt, steht noch dahin.
DS: Worin würden Sie den hauptsächlichen Unterschied zwischen den Terroristen und den Partisanen sehen?
Maschke: Der Übergang ist oft fließend, man denke an die Pariser Kommune, die als Partisanenkrieg gegen die preußisch-deutsche Armee begann und als Terrorismus endete. Der Partisan will die Macht ergreifen durch Kontrolle des Bodens, er kommt nicht umhin, in einer späteren Phase des Kampfes wie die von ihm bekämpfte Armee vorzugehen (wenn er nicht bloße Hilfstruppe bleibt). Der Konflikt zwischen einer regulären Armee und einer Partisanenarmee hat als gemeinsamen Punkt das zum Teil respektierte, zum Teil verletzte Kriegsrecht, und heute ist der Partisan dem Soldaten kriegsvölkerrechtlich fast gleichgestellt.
Für den Terroristen ist das Ziel der Machtergreifung »sekundär«, er will mit seinen Aktionen den »großen Motor« anwerfen, einen je verschiedenartigen Kampf der Massen provozieren. Da dieses »Vorfeld« aber sehr ausgedehnt ist, er lange Zeit isoliert ist, ist er eher ein Problem der Polizei als der Politik (zu der der Krieg gehört). Deshalb ist er auch leichter zu kriminalisieren, zumal er oft sogenannte »Unschuldige« trifft, was im Zeichen eines diskriminierenden Kriegsbegriffes, zu dessen Folgen Flächenbombardements, Umerziehung, juristische Ahndung von »Angriffen« und die Beseitigung des Unterschieds von Kombattant und Nichtkombattant zählen, ziemlich abstrus ist. Die Rede von den »Unschuldigen« hätte nur Sinn, wenn man zum klassischen Kriegs- und Feindbegriff des kontinentalen Völkerrechts zurückkehren könnte bzw. würde.
In der Realität hat man mit solchen Typologien Probleme. Der Sieg von Castros Partisanen etwa war undenkbar, ohne den großstädtischen Terror auf Kuba, aber in der offiziellen Geschichte der Revolution fand er kaum statt. Castros political correctness gebot, den Partisanenkrieg zu einem Massenkampf umzufälschen und den Terrorismus als bescheidenes Randphänomen zu deuten.
DS: Konnten Sie sich 1973 eigentlich schon Anschläge in der Größenordnung vom 11. September 2001 vorstellen? Fällt das nicht aus dem Bild des Partisanen des 20. Jahrhunderts, wie Carl Schmitt ihn in seiner »Theorie des Partisanen« beschrieben hat, völlig heraus?
Maschke: Man konnte sich dies 1973 durchaus vorstellen, etwa wenn man an den organisierten Terrorismus im Zarenreich u.ä. denkt; »nur« die technischen Umstände waren noch kaum zu ahnen. Der »Erfolg« solcher Anschläge liegt darin, dass der durch sie Angegriffene eine Politik führt, mit der andere Staaten und Mächte nicht einig sein können. So etwas entwickelt sich eher kumulierend als direkt und vieles spricht dafür, dass genau dies eintritt.
DS: 1973 gab es ja auch in der Bundesrepublik noch eine terroristische Organisation – die Stadtguerilla der »Roten Armee Fraktion«. Wie haben Sie als ein ehemaliger Hauptprotagonist der 68er Bewegung, der seinerzeit der »Dutschke von Wien« genannt wurde, das Phänomen der RAF bewertet und wie bewerten Sie es heute?
Maschke: Ich habe von der RAF nie etwas gehalten, schon weil ich ihre Mitglieder kannte. Terrorismus kann innerstaatlich nur erfolgreich sein, wenn er in einer vor-revolutionären Situation wurzelt. Die aber bestand nicht. Das heißt: Dem Terroristen muss es gelingen, den Feind deutlich zu machen. Wenn er damit scheitert, werden auch die Beherrschten ihn als ihren Feind ansehen. Eine moderne, von Technik und Verwaltung abhängige Massendemokratie findet ihre relative Einheit im allgemeinen Widerwillen gegen den Störer,- dieses Problem war für die mit sehr bescheidenen Mitteln ausgerüstete Rote Armee Fraktion nicht lösbar.
DS: Sehr geehrter Herr Maschke, ich bedanke mich für das Gespräch.
Das Gespräch führte DS-Mitarbeiter Arne Schimmer

Günter Maschke, geboren 1943 in Erfurt, aufgewachsen in Trier, absolvierte eine Lehre als Versicherungskaufmann und ist seit Jahrzehnten publizistisch tätig. Er gehört weltweit zu den wenigen, welche von sich behaupten können, das Werk des Staatsrechtlers Carl Schmitt umfassend zu kennen, mit dem ihn eine Freundschaft verband.
Günter Maschke war mit bereits 16 Jahren überzeugter Kommunist, 1963-1964 Redakteur der marxistischen Tübinger Studentenzeitung Notizen, Schüler von Ernst Bloch und aktiv in der illegalen KPD politisch tätig. Aus politischen, jedoch nicht pazifistischen Gründen desertierte er 1963 bei der Bundeswehr und war dann Wortführer der Wiener Studentenbewegung (»Dutschke von Wien«).
Im Zusammenhang mit einer Vietnam-Demonstration wurde Maschke verhaftet, fand von Anfang 1968 bis Ende 1969 politisches Asyl in Kuba, wo er jedoch wegen »konterrevolutionärer Aktivitäten« ausgewiesen wurde. Nach Zwischenaufenthalt in Spanien kehrte Maschke in die BRD zurück, wo er wegen Fahnenflucht eine Haftzeit von Ende 1969 bis Ende 1970 in Landsberg am Lech verbüßen musste.
Nach seiner Freilassung war er als freier Journalist in Frankfurt am Main tätig (u.a. bei der FAZ bis 1985), wobei er zahlreiche Artikel in der Tagespresse und in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlichte (besonders zum Werk Carl Schmitts). Günter Maschke ist Mitherausgeber der Bibliothek der Reaktion im Karolinger Verlag. Einen Überblick über das Programm von Karolinger erhält man im Weltnetz unter der Adresse www.bibliotheca-selecta.de/karolinger/ [Anmerkung der Redaktion: Dieser Verweis zum Original-Interview in DS 06/2003 ist leider nicht mehr existent]. Buchveröffentlichungen unseres Gesprächspartners sind u.a.: Das bewaffnete Wort (1997), Der Tod des Carl Schmitt (1987), Kritik des Guerillero (1973). Günter Maschke arbeitet an einer Edition der Gesammelten Werke von Carl Schmitt und ist regelmäßiger Autor der Wochenzeitung Junge Freiheit.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der DS vom Juni 2003. Maschke verstarb am 07. Februar 2022.