Überraschende Töne hört man seit Monaten aus der linken Ecke. Die Impfpflicht wollen sie durchsetzen und hartes Durchgreifen gegen Demonstranten wird da gefordert; den Staat finden sie auf einmal ganz toll und fordern Gehorsam. Man wähnt sich stellenweise im falschen Film. Aber die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot liefert einige interessante Erklärungen für dieses irritierende Phänomen.
Gastbeitrag von Sascha von Aichfriede
Es geht um die Linken: Anhänger der SPD, der Grünen, der Partei Die Linke, Autonome, Antifa, mittlerweile auch Teile der CDU usw. Aus dieser Ecke hört und sieht man dieser Tage eigenartiges: die Antifa greift Impfverweigerer an1, der thüringische Ministerpräsident kritisiert die Verächtlichmachung des Staates durch die Querdenker2, die Grünen fordern hartes Durchgreifen der Polizei gegen Demonstranten3 … man reibt sich die Augen und fühlt sich im falschen Film – solche Worte ausgerechnet von denen, die den Staat permanent verächtlich machen4, die überall negative Autorität und strukturelle Gewalt wittern5, die Krawall und Scharmützel mit der Polizei toll finden6, die auf Transparenten und Sprechchören Nie wieder Deutschland7 fordern, die dazu aufrufen, Deutschland-Fahnen abzureißen8. Was ist da los?

Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot liefert in einem Interview mit der WELT einige interessante Erklärungsansätze zu diesem aktuellen Phänomen9:
„Die Linke und ihre Wählermilieus sind schnell auf den Pfad der Maßnahmentreue eingestiegen. Dieser für sie eher ungewöhnliche Staatsgehorsam schlug seine Wurzel im Argument der Solidarität zu Pandemiebeginn. Solidarität ist ein linkes Ideal, es grenzt sich zur konservativ und liberalen Eigenverantwortung und Eigenständigkeit ab. Auch der Lockdown war ein Ausdruck dieser Solidarität, die wie ein Köder in einem Milieu funktionierte, das sich strukturell eher als antiautoritär und freiheitsliebend versteht. Es löste berechtigte Freude in progressiven Milieus aus, dass endlich einmal Leben über Geld gestellt wurde.“
Weiterführende Informationen:
Stuttgart: Neues vom Antifaprozess

Staatsquote, Vergesellschaften, Kollektivieren, der Staat als Retter – Guérot zeigt dabei gleich auf, wohin das geführt hat:
„Im Grunde wurde eine primär soziale Solidarität umgedeutet auf Solidarität im Gesundheitsbereich. Mit der Pandemie bekam eine progressive Politik, die seit mindestens zwanzig Jahren europaweit mit einer neoliberalen Agenda zu kämpfen hatte, wieder Aufwind. Die Hoffnung, Europa könne nach der Bankenkrise noch mal links abbiegen, erfüllte sich nicht. Dann kam die Pandemie. Die Lufthansa blieb am Boden, Kreuzfahrtschiffe standen still, in der Bucht von Venedig schwammen Delfine. Die Sehnsucht nach einem solidarischen Europa schien sich zu erfüllen. In der Pandemie wurde auf einmal alles möglich. Scholz rettete als Finanzminister die Industrie mit einem Milliarden-Wumms, die EU spannte einen Rettungsschirm von 750 Milliarden. Die Kolumnisten jubelten: Der Staat ist wieder da und er kann alles. Jetzt haben wir fünf Prozent Inflation, unter der die sozial Schwachen am meisten leiden dürften.“
Allen Erfahrungen mit dem Staat und dem Realsozialismus zum Trotz glauben die Linken an den Staatsmonopolismus. Wie unsozial das ist, darüber schweigen sich die Linken aber gerne aus. Oder darüber, dass das Corona-Regime gerade diejenigen trifft, die am wenigsten davon bedroht sind:
„Da kann man nüchtern analysieren, dass die sozialen Verwerfungen zugenommen haben und dass das untere Quintel, eigentlich klassische Zielgruppe linker Politik, am meisten [unter den Corona-Maßnahmen] gelitten hat. Nach allem, was wir heute wissen, sind vor allem die Kinder und Jugendlichen am stärksten betroffen, obwohl sie selbst am wenigsten durch Corona gefährdet waren. Ich würde es auch nicht sozialdemokratisch, sondern eher Neopuritanismus nennen, wenn ein strahlender Gesundheitsminister Karl Lauterbach Kinder vor laufender Kamera impft.“
Weiterführende Informationen:
Berlin: Linke, Grüne und SPD applaudieren zum Verbot der Corona-Demonstrationen
Antifa ruft zum Mord an 53 Politikern auf

Auch das pseudointellektuelle Gehabe der Linken, Meinungen anderer gerne mit dem Verweis auf eine Wissenschaft zu diskreditieren und niederzubrüllen, kritisiert die Politikwissenschaftlerin:
„Es entstand eine autoritäre Versuchung, die heute die Gesellschaft gespalten hat, weil sich zumindest eine Pluralität dagegen wehrt. Der Rekurs auf die Wissenschaft, im Singular, musste notwendigerweise zu verabsolutierten, nicht differenzierten Lösungen führen. Wissenschaft ist ein Diskurs, keine eindeutige Handlungsanweisung. Indem Impfen als einzige Lösung propagiert wurde, hat man sich spätestens in dem Moment in eine Sackgasse manövriert, in dem klar wurde, dass die Impfung, so gut sie sein mag, nicht der erwartete Gamechanger wurde.“
Hinter der neuen linken Staatsgläubigkeit stecken die alten linken Lebenslügen und Widersprüchlichkeiten: Gewalt bekämpfen und gleichzeitig selbst Gewalt anwenden; den Staat ablehnen und ihn gleichzeitig vergöttern; die Solidarität beschwören und gleichzeitig alles in kollektiver Verantwortungslosigkeit verkommen lassen; von Vielfalt reden und gleichzeitig Unterschiede einebnen wollen.
Wohin das führt, haben wir am Bankrott des real existierenden Sozialismus gesehen oder an Bundesländern wie NRW und Bremen, die unter einer langen SPD-Regierungszeit abgewirtschaftet haben. Das eigentlich verblüffende ist, wie die linken Thesen von Milieutheorie, Antibiologismus und dergleichen es immer wieder in den Mainstream schaffen. Sie schaffen es deswegen, weil in ihnen ein Wunschtraum verborgen ist, weil es viele gerne hören wollen: Thesen von totaler Kontrolle und Programmierbarkeit des Lebens; von totaler Gleichheit; von der Hoffnung, dass die Unterschiede in der Leistungsfähigkeit von Menschen nur Einbildung sind; dass das eigene Versagen nur das Resultat eines schlechten Umstandes ist statt eigener Unfähigkeit. Deswegen werden wir diese Unsinnsthesen auch nie loswerden, sondern ihnen in unterschiedlichen Variationen und Spielarten immer wieder begegnen, um sie stets aufs Neue zu bekämpfen.

Quellen:
1 https://www.mainpost.de/regional/wuerzburg/demonstrationen-in-wuerzburg-antifa-und-querdenker-trafen-aufeinander-art-10697979 (Aufruf: 03.01.2022).
2 https://www.n-tv.de/mediathek/videos/politik/Denen-geht-es-um-Veraechtlichmachung-des-Staates-article23001961.html (Aufruf: 03.01.2022).
3 https://www.merkur.de/lokales/muenchen/stadt-muenchen/corona-querdenker-demo-protest-muenchen-gewalt-polizei-gruenen-politikerin-pfefferspray-schlagstoecke-91197586.html (Aufruf: 03.01.2022).
4 https://www.bayernkurier.de/inland/6380-ein-hohn-fuer-alle-die-die-einheit-erkaempften/
5 http://afal.blogsport.eu/tipps-und-tricks/militanz (Aufruf: 03.01.2022).
6 https://interventionistische-linke.org/beitrag/die-rebellische-hoffnung-von-hamburg (Aufruf: 03.01.2022).
7 https://www.blicknachlinks.org/fridays-for-future-chef-bei-der-antifa/ (Aufruf: 03.01.2022).
8 https://www.welt.de/politik/article177749028/Angeblicher-Nationalismus-Linksjugend-ruft-zum-Fahnen-Klau-auf.html (Aufruf: 03.01.2022).
9 https://www.welt.de/vermischtes/plus235908648/Ulrike-Guerot-De-facto-ist-eine-gesamte-Gesellschaft-entmuendigt-worden.html? (Aufruf: 03.01.2022).