Brexit: Schweinejournalismus und Britenbashing

Großbritannien erlebt gerade eine schwere Zeit. Natürlich muss sich das britische Wirtschaftssystem erst an den EU-Ausstieg anpassen. Der deutsche Schweinejournalismus ergeht sich natürlich gerade in Schadenfreude über die bösen EU-Aussteiger, aber wie heißt das schöne alte Sprichwort: Wer zuletzt lacht, lacht am besten.

Gastbeitrag von Sascha von Aichfriede

Momentan berichten die deutschen Leit- und Mainstream-Medien über leere Regale in Supermärkten oder Treibstoffknappheit in Großbritannien, und wie die britische Regierung mit etwas eigenartigen und verzweifelten Aktionen darauf reagiert. Oft genug mit ironischem, schadenfreudigem Unterton. Mit Verlaub: das ist Schweinejournalismus. Und auch noch falsch, wie der Beitrag von Sascha Roßmüller1 vor einigen Tagen herausarbeitete. Auch ein Artikel in der Financial Times kommt zu dem Schluss, dass es unlauter ist, die gegenwärtige Probleme alleine auf den Brexit zu schieben, denn viele haben auch mit der Corona-Pandemie zu tun – die Effekte des Brexits werden sich erst auf längere Sicht zeigen2.

Eine solche Differenzierung interessiert aber den deutschen „Qualitätsjournalisten“ nicht – höchstens wird seitenhiebartig geschrieben, dass es Boris Johnson ja gerade recht komme, dass die Effekte der Pandemie die des Brexits derzeit übertünchen würden3. Es ist doch völlig egal, ob das Johnson recht ist oder nicht – wenn sich die Effekte nicht genau trennen lassen, dann ist das eben eine Tatsache, die auch Brexit-Gegner akzeptieren müssen. Hier wird fast schon Hasspropaganda gestreut, mit der klaren Botschaft: Wer das „Team Europa“ verlässt, verliert. Leider vergessen die Systemschreiberlinge, dass es viele Staaten gibt, die außerhalb der EU existieren und damit recht gut fahren: Norwegen und die Schweiz zum Beispiel. Warum sollte Großbritannien das nicht auch schaffen? Das Establishment tut ja gerade so, als wenn man nur innerhalb der EU existieren könnte. Zumindest ist das die Botschaft an die Öffentlichkeit: EU und Vereinigte Staaten von Europa sind alternativlos.

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Es ist durchaus möglich, dass die Briten in naher Zukunft diverse Handelspakte bis zur Freihandelszone mit großen Volkswirtschaften außerhalb der EU eingehen. Darunter fallen zum Beispiel einige Commonwealth-of-Nations-Staaten wie Australien oder Indien. Mit Indien ist ein solcher Pakt auf der Verhandlungsliste4 und mit Australien praktisch ausgehandelt5. Auch mit den USA wird noch verhandelt und mit Kanada hat Großbritannien ein Abkommen bereits unterzeichnet. Wenn sich diese Pakte etabliert und eingespielt haben, dann werden sich die meisten Briten sagen: „Wer braucht die EU noch?“

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Großbritannien war – wie Deutschland – Nettozahler in der EU. In einer nicht mehr allzu fernen Zukunft, wird das Kartenhaus Eurosystem zusammenfallen, das EU-/Euro-Rettungspaket-Schneeballsystem wird zusammenbrechen und die deutsche Exportblase platzen6. Die Briten werden dann von außen auf ein kollabierendes Kontinentaleuropa blicken und dann genau wissen, warum sie aus diesem System ausgestiegen sind – und sich darüber freuen. Anders als die Euro-Staaten, hat Großbritannien nämlich wesentlich mehr bilaterale Freiheit und eine unabhängige Währung, mit der es Konjunkturpolitik betreiben kann. Es kann seine Wirtschaft durch Währungsabwertungen rasch anpassen und dadurch den Außenhandel ankurbeln. Es kann wesentlich freier als Deutschland mit anderen Ländern dedizierte Handelsvereinbarungen abschließen, um sich wirtschaftlich zu verbessern. Deutschland muss das erst mit vielen anderen Staaten abstimmen.

Es ist sowieso ein Treppenwitz, dass gerade die Deutschen sich über die Briten lustig machen. Deren Median-Nettovermögen lag 2020 bei 131.522 US-Dollar pro Kopf, die armen reichen Deutschen haben dagegen nur 65.374 US-Dollar pro Kopf und jeder Grieche 57.595 US-Dollar7. Zwar hat Großbritannien eine hohe Staatsverschuldung, aber Deutschland wesentlich mehr Risiken, nämlich über eine Billion Euro, wenn man die Euro-Rettungspakete wie ESM und EFSF, die Target-2-Forderungen und Wiederaufbaufonds-Garantien addiert. Diese Zahlen tauchen nämlich im Haushalt nicht auf und werden implizite und Schattenverschuldung genannt. Die ist zwar auch bei den Briten sehr hoch, aber Deutschland ist aufgrund seiner Exportblase (Außenhandelsüberschüsse) Mithafter der Defizite seiner Abnehmerländer – anders als Großbritannien.

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Im Falle Deutschlands muss man also auch die impliziten und expliziten Schulden und Zahlungsverpflichtungen der anderen Euro-Staaten dazurechnen, denn wenn unsere Abnehmer in Schwierigkeiten geraten, muss Deutschland immer wieder einspringen, um seine „Kunden“ kreditwürdig zu halten. Hans-Werner Sinn erklärt: „Deutschland hat seine Kräfte über Jahrzehnte hinweg auf den Export von Investitionsgütern konzentriert. Das war eine solidere Strategie, als auf Finanzdienstleistungen zu setzen [wie Großbritannien das tat]. Doch erzeugt diese Abhängigkeit von den Investitionsgüterexporten permanent Schocks und Störungen im Wirtschaftsablauf, die anderen Ländern in dieser Heftigkeit erspart bleiben. Deutschland schwimmt wie ein Korken auf den Wogen der Weltkonjunktur.“8

Es gibt zwei Gruppen in diesem Land, die besonders markant auftreten, wenn es darum geht, Brexit-Freunde und EU-Gegner der Ketzerei zu beschuldigen. Das sind zum einen die eher irrationalen Nationalapokalyptiker, die von einem Aufgehen in Europa und einer Verabschiedung von Deutschland ein schwieriges historisches Erbe abzustreifen hoffen. Diese Gruppe ist fanatisch und reagiert extrem irritiert, wenn andere diesen Weg nicht mitgehen wollen. Die rationale Gruppe dagegen sind einfach diejenigen, die von dem EU-System profitieren, also alle Menschen beispielsweise, die in der EU-Bürokratie lukrative Versorgungsposten besitzen oder einfach von der Exportblase noch möglichst lange profitieren wollen.

Damit diese Blase nicht sofort platzt, muss der EU-Binnenmarkt (Zollfreiheit) und das Eurosystem (unterbewertete Währung) weiterlaufen, denn hätte Deutschland noch die Deutsche Mark, wäre diese Währung derzeit eine Fluchtwährung und viel zu teuer, um weltweit weiterhin hohe Exporte zu erzielen. Es darf daher nicht sein, dass sich ein Ausstieg aus der EU oder dem Euro als lohnenswert erweist.

Erstere (Nationalapokalyptiker) sind dumm, Zweitere (Blasenprofiteure) korrupt. Daher sollte man sich keiner dieser Gruppen anschließen, denn wenn der Economist – wie in der Vergangenheit9 – recht behält, dann sieht es düster aus für Deutschland10, das schon lange von seiner Substanz lebt und nach sechzehn Jahren Reformstarre und vielen Fehlentscheidungen unter Angela Merkel ein Sanierungsfall ist11. Daher wage ich eine Prognose: am Ende werden die Briten lachen. Und man sollte dann nicht zu denen gehören, die sich über den Brexit echauffiert haben, denn es kann gut sein, dass wir auf der Insel betteln gehen müssen.


1  https://deutsche-stimme.de/es-geht-den-briten-nicht-der-treibstoff-sondern-bruessel-die-argumente-aus/ (Aufruf: 08.10.2021).

2  https://www.ft.com/content/fbb70741-34cc-4f54-a66b-a2e4b9445f5b (Aufruf: 08.10.2021).

3  https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-brexit-effekt-laesst-sich-nicht-laenger-leugnen-eu-austritt-bremst-den-britischen-aufschwung/27585394.html (Aufruf: 08.10.2021).

4  https://www.orfonline.org/expert-speak/unlocking-a-new-era-india-uk-early-harvest-trade-deal/ (Aufruf: 08.10.2021).

5  https://www.dfat.gov.au/trade/agreements/negotiations/aukfta/australia-uk-fta-negotiations-agreement-principle (Aufruf: 08.10.2021).

6  https://deutsche-stimme.de/asoziale-marktwirtschaft-bankster-warnen-vor-der-fdp/ (Aufruf: 08.10.2021).

7  https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_L%C3%A4nder_nach_Verm%C3%B6gen_pro_Kopf (Aufruf: 08.10.2021).

8  https://www.hanswernersinn.de/archiv-hws/pressebeitrag/medienecho_8655875_ifostimme-wiwo-05-01-09.html (Aufruf: 08.10.2021).

9  https://www.welt.de/finanzen/plus233916948/Merkel-Aera-Abgesang-auf-Deutschlands-Wirtschaft-Economist-rechnet-ab.html? (Aufruf: 08.10.2021).

10  https://www.economist.com/special-report/2021/09/20/after-merkel (Aufruf: 08.10.2021).

11  https://deutsche-stimme.de/angela-merkel-nachruf-auf-eine-schrecklich-schreckliche-kanzlerschaft/ und https://www.welt.de/wirtschaft/plus229697007/Top-Manager-Wolfgang-Reitzle-Deutschland-ist-ein-Sanierungsfall.html (Aufruf: 08.10.2021).

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4 Antworten

  1. Nebenbei bemerkt ist die Wirtschaftsleistung im vereinigtem Königreich seit dem Brexit gestiegen, während sie in Deutschland gesunken ist.

    1. BIP Deutschland Q4/2019: 891,79 Mrd. EUR
      BIP Deutschland Q2/2021: 859,27 Mrd. EUR
      das sind 96,4% des Vor-Corona-Quartals

      Dagegen:
      BIP UK Q4/2019: 565,11 Mrd. GBP
      BIP UK Q2/2021: 546,56 Mrd. GBP
      das sind 96,7% des Vor-Corona-Quartals und marginal mehr als in Deutschland

      Klar ist: von Brexit-Katastrophe sieht man in den Zahlen nichts.