Was Europa angeht, wird Wahlversprechen um Wahlversprechen gebrochen: Schuldenunion ist nun Realität, entgegen aller Beteuerungen; der Bundesstaat kommt auch, obwohl immer die Rede von einem Staatenbund war. Im Turbomodus geht es auf die Vereinigten Staaten von Europa zu und es scheint allen egal zu sein. Warum herrscht eigentlich ein so großer Glaube daran, dass das etwas Gutes werden könnte?
Gastbeitrag von Sascha von Aichfriede
Die Welt1 untersuchte kürzlich unter der Leitfrage, ob es in einigen Jahrzehnten die Bundesrepublik überhaupt noch gibt, die Ziele einiger Blockparteien. Das Ergebnis: Die Grünen wollen die „Föderale Europäische Republik“, die SPD ist grundsätzlich für die „USE“, möchte sich aber nicht an Begrifflichkeiten aufhängen; die FDP wünscht sich einen föderativen europäischen Bundesstaat und die CDU ist für ein „starkes Deutschland in einem starken Europa“. Was heißt das denn? Die CDU schrieb noch 2019 in ihr Europawahlprogramm: „Wir wollen Europa als starken Staatenverbund, als erfolgreichen Wirtschaftsraum und als globalen Stabilitätsanker in der Welt!“2 Das ist eine Absage an den europäischen Bundesstaat. Aber Ursula von der Leyen, von der CDU und immerhin (noch) EU-Kommissionspräsidentin, sagte 2011: „Mein Ziel sind die Vereinigten Staaten von Europa.“3
Vorsorglich wurde ja bei der Wiedervereinigung 1990 schon einmal aus der Präambel des Grundgesetzes entfernt, dass es das Ziel des deutschen Volkes sei, „seine nationale und staatliche Einheit zu wahren“4. Damit es bei der Auflösung der deutschen Nationalstaatlichkeit keine juristischen Widersprüche mehr gibt, natürlich. Gefragt wurde jenes deutsche Volk selbstverständlich auch nicht. Wo sind eigentlich die Verteidiger Deutschlands?
Vereinigte Staaten von Europa im Kontext der Weltstaatsidee
Wenn wir über die Vereinigten Staaten von Europa sprechen, müssen wir das im Kontext eines angedachten Weltstaats sehen, für den die EU und die Vereinigten Staaten von Europa nur Vorstufen sind. Dieses Projekt des vereinigten Europas und der Einen Welt, begeistert viele Deutsche, denn damit verbinden sie die Aussicht, ihr Deutschsein abstreifen und in etwas Unbelastetes übergehen zu können. Allerdings völlig unbegründet, wenn man bedenkt, dass andere Staaten (moderne Demokratien) noch viel mehr Dreck am Stecken haben: der Weltunruhestifter USA und die ehemaligen und noch aktiven sozialistischen Staaten sowieso. Aber wie stellte der Harvard-Psychologe Henry Murray in seinem Gutachten über Adolf Hitler und die Deutschen 1943 fest: „Die Charakterstruktur der Deutschen ist von einem starken Drang geprägt zu huldigen, zu gehorchen und sich zu opfern.“
Um die Deutschen von ihrer Verbindung zu Adolf Hitler zu lösen, der zu dieser Zeit der Gegenstand ihrer Huldigung war, schlug Murray vor, den Deutschen einen Ersatzgott zu verschaffen. Konkret sei das der Glaube an eine „Weltföderation“ und die Huldigung des „Weltbewusstseins“. Laut Murray benötigen die Deutschen diese Abgötterei, weil sie von einem ehernen Minderwertigkeitskomplex geplagt seien und sich nur so wertig fühlen.5
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Ganz falsch lag Murray nicht: Ob das Aufgehen in Europa, der Schuldkult, die Willkommenskultur, der moralimperialistische Haltungsweltmeister oder der autoaggressive Nationalmasochismus – die Deutschen pflegen weiterhin und in oft hysterischer Weise ihre Abgötter und Idealismen. Man denke dabei an FFF-Kindersoldaten, die „Nie wieder Deutschland“ skandieren oder Willkommensclowns, die am Bahnhof die Flüchtlinge mit Stofftieren und Süßigkeiten bewerfen. Aber lachen darf man darüber nicht: Vor allem, wenn es um die historische Schuld und das Aufgehen in Europa und der Welt geht, haben diese Kulte bereits den Status einer Staatsdoktrin erreicht. Und die Deutschen reagieren auch sehr ungehalten, wenn ihre Götter beleidigt werden, zum Beispiel von den Briten, die nicht mit „aufgehen“ wollen.
Wir müssen diese Ersatzgötter dennoch vernichten, die die Siegermächte den Deutschen als Kompensations- und Fetischobjekte untergeschoben haben. Nur so kann Deutschland bewahrt und gerettet werden. Das beginnt mit der Diskussion, ob der Weltstaat und seine Vorstufen wirklich etwas sind, für das man sich beziehungsweise sein historisches Erbe opfern sollte.
Das Leitmotiv ist Neofeudalismus – nicht Friede oder Freiheit
Gerne wird einem die Vision eines Weltstaats als eine Welt des Friedens verkauft: Alle sind sich einig, alle haben sich lieb. So wird es aber nicht laufen, denn der Weltstaat wird kein Friedensstaat sein. Und warum sollten die Regierungschefs Macht abgeben an überstaatliche Organisationen, wenn dahinter nicht mehr Macht für sie winkt? Die Eine Welt wird von einer zentralistischen Oligarchie geführt werden und die Distanz zwischen Regierenden und den Regierten, die heute schon als Demokratiedefizit der Europäischen Union ein Thema ist, wird noch viel größer sein. Der Weltstaat ist letztlich das Projekt einer Elite, einer Oligarchie, die erkannt hat, dass es besser ist, gemeinsam die Massen zu knechten als sich gegenseitig zu bekämpfen.
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Das ist nämlich früher passiert: Die deutsche Aristokratie (also eine auf Gemeinwohl ausgerichtete Oligarchie) hat sich im Ersten und auch im Zweiten Weltkrieg mit anderen Aristokratien geprügelt und dabei regelmäßig selbst Eigentum und Leben eingebüßt. Da erinnerte man sich des guten Mittelalters und der frühen Neuzeit, also feudaler Zeiten, als Adel und Klerus sowie einige wenige Großbürger eine europaweit vernetzte Oligarchie bildeten: Diese war, trotz Kriege, die eigentlich eher Turniercharakter hatten, im Wesentlichen grenzüberschreitend mobil und einig hinsichtlich des gemeinsamen Feindes, nämlich dem Pöbel. Der Adel, wie später die Großbürger, waren geeint durch einen Kodex, durch gegenseitige Heirat und Mobilität. Ein Feudalherr war nach dem Ende seiner Ausbildung überall hof- oder salonfähig, ob in England, Frankreich, Spanien, den deutschen oder den italienischen Fürstentümern.
Erst die Entstehung des Nationalismus und der Nationalstaaten im neunzehnten Jahrhundert beendete die feudalistische Internationale. Sie zwangen die Oligarchien, sich national mit dem eigenen Volk zu solidarisieren und zur Aristokratie zu werden – zum ersten Mal standen sich diese Eliten ernsthaft feindlich gegenüber. Zugleich war der Nationalstaat auch der Beginn des Sozialstaats. Somit ist der Internationalismus der Eliten ganz eindeutig eine neofeudalistische Strömung und auch eine Absage an den Sozialstaat und der Solidarität von Eliten mit ihrem Volk. Die Eliten der Nationen solidarisieren sich wieder miteinander und gegen die Völker. Die Armeen werden durch paramilitärische Polizeikorps ersetzt und Kriege werden zu Bürgerkriegen. Das ist der Weltstaat und nichts anderes.
Ist der Weltstaat innovativ oder fortschrittsorientiert?
Manche sagen, dass in der Einheit ein Fortschritt liegt, aber welche Dynamik kann im Weltstaat entstehen? Technisch betrachtet ist doch der Krieg Vater aller Dinge. Dies soll keine Werbung für den Kriegszustand sein, aber die rasende technische Entwicklung von der Pferdekutsche im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert über die Entdeckung und Nutzung des Atoms in den 1930ern und 1940ern zur ersten bemannten Mondlandung im Jahr 1969 war das Ergebnis des Krieges und des Spannungszustandes: Im Zeitalter des Imperialismus wollten sich die Nationen in Sachen Entdeckung und Entwicklung ständig überbieten; danach die beiden Weltkriege, die ihrerseits gewaltige Innovationen brachten, vor allem deutsche Raketen- und amerikanische Nukleartechnik.
Es folgte der Kalte Krieg mit seinem Wettbewerb zwischen den sozialistischen und den kapitalistischen Systemen, der auch ein technischer Wettbewerb war. Aber seit dem Ende dieses Wettbewerbs sind die großen Innovationen zu Ende – es fehlen die riskanten und kostspieligen Megasprünge, die einer moderaten und kontinuierlichen Weiterentwicklung gewichen sind. Gäbe es den Kalten Krieg noch, wir hätten bereits Mond- und Marsbasen. Und in einem Weltstaat fehlt dieser Wettbewerb vollständig, also wie kommen verständige Menschen auf die Idee, dass dieses Konstrukt innovativ sein könnte? Das wird es nicht sein. Es winkt eher die bleierne Schwere einer zentralistischen Bürokratie.
Lineares Geschichtsverständnis als Denkfehler der Weltstaatsidee
Gerne wird auch argumentiert, dass der Weltstaat ja nur eine konsequente Weiterentwicklung sei, denn immerhin gebe es eine stringente Entwicklung von der Sippe, zu Stämmen, zu Großgruppen, zu Völkern, zu Nationen. Der Weltstaat und die Welteinheitsgesellschaft wären nur die natürliche nächste Stufe. Die Geschichte spricht aber eine andere Sprache: Immer wieder gab es multiethnische Staaten, wie etwa das Perserreich, Römische Reich, Österreich-Ungarn, Jugoslawien oder die Sowjetunion, die zerbrochen sind. Auch die USA werden diesen Weg gehen.
Es gibt in der Geschichte keine reine Linearität, daher verbietet sich eine These, die von einer solchen ausgeht. Auch andere menschliche Organisationen, wie Unternehmen, werden nicht linear immer größer und dadurch immer besser, sondern es ist empirisch nachgewiesen, dass auch Unternehmen zu groß werden können. Regelmäßig spalten sich Konzerne daher wieder auf, um agiler und wettbewerbsfähiger zu sein. Der Traum von einem paradiesischen Einheits- und Weltstaat geht daher an allen Erkenntnissen aus Geschichte und Organisationslehre vorbei – er ist kein Traum, sondern ein Alptraum.
https://www.welt.de/politik/deutschland/plus234020872/Bundestagswahl-Auf-dem-Weg-in-die-Vereinigten-Staaten-Europas.html? (Aufruf: 13.10.2021).
https://archiv.cdu.de/system/tdf/media/dokumente/europawahlprogramm.pdf?file=1 (Aufruf: 13.10.2021).
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/schuldenkrise-von-der-leyen-fordert-die-vereinigten-staaten-von-europa-a-782879.html (Aufruf: 13.10.2021).
https://www.juraforum.de/lexikon/praeambel-des-grundgesetzes (Aufruf: 13.10.2021).
https://archive.org/details/AnalysisThePersonalityofAdolphHitler (Aufruf: 13.10.2021).
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