An dieser Stelle veröffentlichen wir eine Weihnachtsgeschichte unseres Kolumnisten Dr. Konrad Windisch. Windisch veröffentlicht unter der Bezeichnung Pfeffer und Rosinen aus Österreich seit vielen Jahren seine mal nachdenklichen, mal bissig-ironischen Betrachtungen zum Zeitgeschehen und zur österreichischen Politik in der DEUTSCHEN STIMME.
Es ist eine alte Sitte, der Brief zu Weihnachten. Das heißt also eine Sitte, die jeder kennt und niemand mehr tut. So etwa wie der Brief an den Storch mit der Bitte um ein Brüderlein oder Schwesterlein. Ein unsinniger Brief also, denn die Wünsche zu Weihnachten werden ja von denen erfüllt, die Geschenke auch bezahlen können. Und auch der Brief an den Storch müsste eine Bitte um Pillenverzicht sein. Wer hat denn noch Zeit, zu Weihnachten Briefe zu schreiben? Oder gar zu lesen? Wunschzettel, Bestellscheine, SMS, E-Mail, Vormerkungen, Erledigungslisten – ja. Aber Briefe?
An wen sollte man den Brief denn auch richten? An das Christkind? An welches denn? Wo man doch nicht einmal mehr an den Krampus glaubt. An den Weihnachtsmann? An welchen denn? An den von der Mariahilferstraße, der die Rabattzettel verteilt? Oder an die Engel in den Schaufenstern? Die aufgegklebten, aufgepappten, aus Kunststoff in Serien produzierten? Wie soll man denn einen Brief schreiben, wenn der Adressat unbekannt verzogen ist? Irgendwohin. In den Himmel vielleicht?
Wohin ist der Traum entschwunden?
Es ist als ob Wesen, lebendige Wesen verschwunden wären – und das unter Zurücklassung von Erinnerungen an Stelle von Visitenkarten. Und geblieben sind Abziehbilder, Klischees, Poster. Es ist, als ob es einmal einen Traum gegeben hätte, und zurückgeblieben ist eine Neurose, vorgegaukelte Vorstellungen, Phantastereien statt Phantasie, Halluzinationen statt Träumereien, Begierden statt Wünsche, Fieber statt Sehnsucht. Und niemand ist schuld daran. Niemand und alle.
Ein Brief an etwas Unbekanntes – das stimmt nicht. Der Adressat ist nicht unbekannt, jeder von uns kennt ihn, auch wenn er bei jedem einen anderen Namen hat. Jeder kennt das Unbekannte, und sei es aus seiner Kindheit. Ist es die Sehnsucht? Die Sehnsucht nach etwas Unnennbarem, dem wir früher einmal einen Namen gegeben haben? Christkind oder Weihnachtsmann oder Licht. Die Sehnsucht nach diesen Dingen kennen alle, auch wenn sie keine Sehnsucht mehr haben. Natürlich kann man ihm auch Briefe schreiben, natürlich. Zusehen darf niemand und erfahren darf es niemand. Eine Wunschbrief kann man schreiben. Vielleicht fällt einem dabei auch die Adresse wieder ein.
Konkrete Wünsche haben allerdings keinen Platz mehr in einem solchen Brief. Um Geld ist doch alles zu haben, sagt man. Und wer keines hat, der borgt sich eben welches. Hören Sie die Lüge? Die große Lüge, die an die Stelle des Unbekannten getreten ist? Denn alles Käufliche ist zugleich auch alles Verzichtbare. Es gibt keinen Wunsch, der mit Geld zu erfüllen ist und auf den man nicht auch verzichten kann. Alle anderen Wünsche aber haben nichts mit Geld zu tun. Gesundheit, Zweisamkeit, Wiedersehen, Glücklichsein, Geborgenheit, Liebe. Millionen Wunschzettel werden in dieser Zeit abgehakt, erledigt und gestrichen. Millionen Wünsche bleiben unerfüllt. Und resignierend wird sehr oft nicht einmal mehr gewünscht.
»Ein paar Stunden Ruhe«
Zwei kleine Buben, rot gefroren, mit Wollmütze und Hauch vor dem Mund, stehen an der Ecke und reden von Weihnachten. Von »was ich bekommen werde« reden sie, von Wünschen. Und da sagt der eine: »Wenn wir einen Toto-Treffer machen, sagt der Vati…« Ja, wenn er! Und was dann? Was soll man dem Buben sagen, selbst wenn er zuhören würde? Oder soll man es lieben seinen Eltern sagen? Sagen, dass sie ihr Kind auch mit einem Toto-Gewinn arm machen würden. Sehr arm.
Ein Geschäftsmann sitzt hinter der klingelnden Kasse, das Geschäft voller Kunden und Angestellten. Und voller Weihnachtsschmuck, versteht sich. Er sitzt da, angespannt, nervös. »Ich wünsche mir zu Weihnachten«, sagt er, »ein paar Stunden Ruhe«. Man möchte gerne fragen: »Wie stellen Sie sich denn die Ruhe vor? Was würden Sie denn dann tun? Nichts?« Man fragt nicht und weiß es: Er würde etwas tun. Nicht etwa lesen oder träumen oder Ruhe haben. Er würde »etwas tun«. Und müsste doch nur eines machen: Jemand anderen zur Kassa setzen oder »Komme gleich« auf die Geschäftstüre schreiben. Was würde er sagen zu so einem Vorschlag? »Sind Sie wahnsinnig?«
Lesen Sie – oder schreiben Sie einen Brief
Eine Hausfrau hetzt durch die Straßen, Taschen in der Hand, Zettel in der Tasche, Sorgen im Gesicht. »Das muss ich noch erledigen!« »Was wünschen Sie sich, gnädige Frau?« – »Dass die Weihnachten schön vorüber wären!« Was für ein Wunsch! Was für eine Sünde! »Warum hetzen Sie dann so?« – »Damit zu Weihnachten alles in Ordnung ist!« Alles in Ordnung ist? »Alles« wird nie »in Ordnung« sein. Nie. Vor allem, wenn man selbst nicht in Ordnung ist.
»Kaufen Sie schon im Oktober!« Sie kennen den Slogan. Zum Teufel oder um der Weihnacht willen: Kaufen Sie doch im Oktober oder im September oder gleich nach dem Urlaub. Kaufen Sie, damit alles seine Ordnung hat.
Aber in der Weihnachtszeit erleben Sie Weihnachten. Die Freude auf den Erlöser oder auf das wiederkehrende Licht oder worauf sie sich eben um diese Zeit freuen können. Freuen Sie sich! Wünschen Sie sich die Freude! Schauen Sie, fühlen Sie, träumen Sie! Lesen Sie oder schreiben Sie einen Brief. An irgend jemand. Die Post ist auch um diese Zeit meist zuverlässig.
Im Park sitzen Zeisige auf den Zweigen, aufgeplustert, freundlich, zutraulich. Im Wald liegt unberührter Schnee oder glitzert und glänzt Eis an den Zweigen. Durch den Schnee führen Spuren, winzige Spuren von Hasen und Amseln und Wichtel. Sie führen zu Nestern, zu Ecken und Lichtungen auf unbegangenen Wegen. Sie führen zum Traum. Im kleinen Lokal bullert der Ofen, stapeln sich die Holzscheite an den Wänden, strahlen die Wärme wider. An den Tischen sitzen Menschen und reden, plaudern, trinken ein Glas Wein. Ein Tisch, eine Bank, ein Sessel ist sicher auch für Sie frei. Nehmen Sie Platz!
Die Erinnerungen der Kindheit
In den Gassen ihrer Umgebung gibt es vielleicht noch Geschäfte, die in ihren spärlichen Auslagen Dingen haben, die Sie an die Kindheit erinnern. In einfachen Schachteln, auf alten Regalen. Christbaumstücke zum Beispiel, die es eigentlich gar nicht mehr gibt. Es gibt die Winkel Ihrer Kindheit noch, die um diese Zeit voller Erinnerungen sind. Voll davon!
Im Kasten oder in der Lade Ihres Schreibtisches liegen viele Dinge, die man jetzt zur Hand nehmen kann, für einen Augenblick, einen kurzen, einen schönen, einen empfundenen Augenblick. Briefe, Programme, Bilder, Schriftzüge, Dokumente. Eine Stunde oder zwei geben sie Nachricht von damals, wie es war, in dieser oder einer anderen Zeit. In der Vergangenheit. Nicht in der »guten, alten«, nicht in dieser. In der Zeit, als Sie noch Wünsche hatten, keine käuflichen, die heute unverkäuflich sind. »Das wäre ja zum Weinen«, sagen Sie? Na und?
Weiterführende Informationen:
Eine wahre Weihnachtsgeschichte, oder: Der Geist der Weihnacht’ weht überall
Pfeffer und Rosinen aus Österreich: Probleme mit den Genossen
Schenken ist leicht, wenn man Geld hat. Schenken ist schwer, wenn jemand alles hat. Schenken ist schön, wenn man jemand etwas schenkt. Viele schenken heute mit Erlagscheinen, anonym, an Institutionen, gewohnheitsmäßig, sich selbst beruhigend. Aber machen Sie einen Versuch, der Sie – wie ich fürchte – erschrecken wird. Schenken Sie einem armen Kind – das gibt es nämlich auch heute noch – auf der Straße etwa ein Säckchen mit Süßigkeiten. Einfach so: »Da hast Du – ich schenk Dir das!« Oder gehen Sie in ein Heim für arme und alte Menschen – die gibt es nämlich heute auch noch – mit einem Paket. Einfach so: »Frohe Weihnachten! Das schenke ich Ihnen.« Machen Sie einen solchen »Test«, der eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein müsste. Sie werden entsetzte Augen, abwehrende Gesten und die Frage erleben: »Wer sind Sie denn überhaupt? Von wem kommen Sie?«
Freude schenken. Persönlich.
Ja. Oder aber auch Freude. Ich weiß es. Oder schreiben Sie einen Brief. An jemand, der lange keinen bekommen hat und der auch keinen erwartet. Keine vorgedruckte Karte, kein Klischee. Einen Brief, einen einfachen Brief. Einen Brief mit Fragen, mit Mitteilungen und mit Wünschen. Mit allen guten Wünschen für das kommende Jahr, einen Brief, der Freude bringt, zu jemand, der lange schon keine Freude hatte und der sie jetzt doppelt spürt. Jetzt, um diese Zeit.
Entschuldigen Sie diese Ratschläge! Es kommt davon, weil ich gerade einen Brief schreibe, so wie ich früher – als Kind – Briefe schrieb in der Zeit vor dem Fest. Wunschbriefe, die dann auf das Fensterbrett gelegt wurden und die dann dort oft ein paar Tage lang lagen, bis sie ein Engel abholte. Einer, der gerade Zeit hatte. Er wurde selten sofort abgeholt, es dauerte immer eine Weile. Und ich hatte dafür Verständnis, denn die Engel, ganz zu schweigen vom Christkind, hatten um diese Zeit furchtbar viel zu tun. Ich war nicht das einzige Kind, das Briefe schrieb, und am Himmel schwirrte es nur so vor aufgeregten Postboten. Es wurden auch nicht alle Wünsche erfüllt, nein, aber die meisten. An einige dieser Wünsche kann ich mich noch erinnern: »Bitte lass den Vater aus dem Krieg gesund zurückkommen!« Oder: »Bitte, lass die Großmutter lange leben!« Und: »Bitte vergiss mich nicht am Heiligen Abend!«
»… vielleicht im nächsten Jahr…«
Unlängst hörte ich in einem Geschäft: »Und wenn das nicht bis zum 20. da ist, storniere ich den Auftrag. Schließlich ist es ein Geschenk!« Ich erinnere mich an Wünsche, die mir das Christkind nicht erfüllte. »Macht nichts«, dachte ich, »vielleicht im nächsten Jahr.« Und dann fand ich einen Brief unter dem Weihnachtsbaum, da stand: »Die Burg kommt etwas später. Meine Engel hatten so viel zu tun, sie konnten die Bemalung nicht fertigmachen. Aber ich bringe sie Dir sicher nach Weihnachten!«
Und das Christkind hielt Wort, und ich legte aufs Fensterbrett einen Dankeschön-Brief. Na ja, vielleicht schrieb man früher mehr Briefe, weil es noch weniger Telefon gab, von den heutigen Kommunikationsmöglichkeiten ganz zu schweigen. Telegramme waren teuer und Funk auch. Auch war das alles weiter weg, es wurde nicht frei Haus geliefert, rückständig war halt alles, kompliziert. Vielleicht auch verlogen. Sie glauben gar nicht, wie viele Lügen meiner Kindheit ich mir heute wünschen würde!
Jetzt, um diese Zeit
Vielleicht schreiben Sie auch einen Brief an einen lieben Menschen, den es nicht mehr gibt und der Sie ein Stück Ihres Lebens begleitet hat. Schreiben Sie, wie Sie ihn vermissen, nicht nur jetzt, aber gerade jetzt um diese Zeit. Schreiben Sie ihm, was Sie noch alles zu sagen, zu fragen oder zu besprechen hätten. Legen Sie ihm diesen Brief dann vielleicht auf sein Grab und schämen Sie sich nicht, niemand sieht es und niemand belächelt Sie. Es gäbe noch so viel zu sagen und es kann sein, dass Ihnen beim Schreiben die Tränen kommen. Aber auch Antworten. Jetzt, um diese Zeit.
Habe ich Sie aufgehalten? Habe ich Sie von etwas abgehalten. Entschuldigen Sie. Ich wollte Ihnen einen Brief schreiben, zu Weihnachten. So wie früher an das Christkind, das es jetzt nicht mehr gibt. Zumindest nicht mehr das gleiche. Aber irgend etwas kommt zu uns um diese Zeit, ganz gleich, welchen Namen wir ihm geben. Es wird heller, immer heller. Und bei einem Ausflug habe ich in einer windgeschützten Ecke schon die ersten Palmkätzchen gesehen. Können Sie sich das vorstellen? Und in den Blumenläden gibt es schon Schneerosen und die Barbarazweige blühen im Glas.
Ich freue mich darüber und wünsche Ihnen, dass die Freude auch zu Ihnen kommt. Jetzt, um diese Zeit.
Zur Person
Konrad Windisch, geboren am 21. August 1932 in Wien, war von 1963 bis 2021 Schriftleiter der zweimonatlich erscheinenden Kommentare zum Zeitgeschehen.
Der Publizist und Autor Konrad Windisch schuf zahlreiche zeitlose Weihnachtsgeschichten; eine seiner bekanntesten trägt den Titel Als man sich auf Weihnachten noch freuen konnte. Aus seiner Feder flossen Gedichte von großer Tiefe, vielfach zeitgeistkritische Erkenntnislyrik.
Weiterführende Informationen:
Neuer Weihnachtssport: Jagd auf die Heiligen Drei Könige
Weihnachtsdekoration verschwindet aus den Regalen
Eine Antwort
Warum soll eigentlich das Christkind für Wunschzettel zuständig sein ? Also mal abgesehen davon, das auch zu Weihnachten viele Christkinder geboren werden. Christus bedeutet doch das Gleiche wie Gesalbter und Messias. Babys – natürlich auch Erwachsene – werden doch auch gesalbt – obwohl ich mich an meine erste Salbung nicht mehr erinnern an. Somit war doch jeder mal ein Christkind und ist somit auch jetzt noch ein Gesalbter und Christus… Vielleicht schreibt man auch die verkehrten Wünsche an die „Christkinder“. Sollte man nicht besser schreiben: Liebes „Christkind“, mache nicht so oft in die Windeln oder störe Deine Eltern nicht so oft durvh Geschrei u.s.w. ? Es wäre doch denkbar das solche Wünsche eher erfüllt werden…
Aber um auf den Anfang zurückzukommen – wir leben doch alle in dieser Welt und noch nicht im Jenseits – in welchem und wie auch immer. Somit könnte man doch auch annehmen, das der „Gott dieser Welt“ nach 2. Kor. 4, 4 dafür zuständig wäre. Ungläubige im eigentlichen Sinne gibt es doch nicht, da jeder an irgendetwas glaubt, sei es wahr oder nicht.