Vor 35 Jahren fiel am 9. November 1989 völlig überraschend die Berliner Mauer, was nur durch eine Kette von Zufällen und Irrtümern möglich war.
Wer in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts mit offenen Augen durch die DDR ging, der – so schildern es fast einhellig die Zeitzeugen – erlebte eine Stagnation, die sich auf praktisch alle Lebensbereiche übertragen hatte und durch die die Legitimation der Herrschaft der Staatspartei SED zunehmend zerschliss.
Arne Schimmer
Ende der achtziger Jahre kann man dann in der DDR alle Merkmale erkennen, die für eine revolutionäre Situation charakteristisch sind. Bei den Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 gelingt es der DDR-Bürgerrechtsbewegung erstmals, die massiven Wahlfälschungen flächendeckend zu dokumentieren, dennoch gilt die DDR bis in den Sommer des Jahres 1989 auch ausländischen Beobachtern als stabil.
Unbeherrschbar wird die Lage für die DDR-Machthaber dann aber ganz schlagartig durch die Erosionsprozesse in anderen Ostblockländern. Am 2. Mai 1989 kündigt die ungarische Regierung an, die Grenzbefestigungen zwischen Österreich und Ungarn abzubauen.
Am 27. Juni schließlich durchschneidet der ungarische Außenminister Gyula Horn und sein österreichischer Amtskollege Alois Mock in der Nähe von Sopron symbolisch gemeinsam ein erstes Stück Stacheldrahtzaun. Die DDR-Machthaber werden von der Wucht dieser historischen Bewegung regelrecht überrollt, denn schnell wird klar, dass der gesamte »Eiserne Vorhang« nicht zu halten ist, wenn er nur an einer Stelle löchrig wird. Bald halten sich 200.000 DDR-Bürger in Ungarn auf, viele mit dem Ziel, in die Bundesrepublik zu fliehen. In der DDR selbst gibt es bald kein anderes Thema mehr als diese Fluchtbewegung, auf die der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker mit einer hölzernen Rede reagiert, in der er beschwörend ausruft: »Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.«
Streitfall Reisereform
Am 7. Oktober 1989 kommt es dann im vogtländischen Plauen zur ersten oppositionellen Großdemonstration in der DDR seit dem 17. Juni 1953 mit 20.000 Teilnehmern, eine weitere machtpolitische Wende stellt dann der 9. November 1989 dar, als sich die in Leipzig zusammengezogenen Einsatzkräfte angesichts von 70 000 Demonstranten zurückziehen.
In der SED-Spitze meint man weiterhin, die eigene Macht bei Vornahme einiger personeller Änderungen retten zu können. Am 17. Oktober 1989 wird SED-Generalsekretär Erich Honecker im Rahmen einer Sitzung des Zentralkomitees der SED von allen seinen Ämtern entbunden und Egon Krenz per Akklamation zum neuen Generalsekretär der Partei bestimmt.
Immer drängender stellt sich nun die Frage, wie man mit dem überbordenden Wunsch der eigenen Bürger nach Reisefreiheit umgehen soll. Die einzige Möglichkeit zur Stabilisierung der DDR wäre wohl eine »nordkoreanische Lösung« gewesen, also die rigorose Abschnürung der DDR auch noch von allen benachbarten Ostblockländern. Und tatsächlich setzt die DDR-Führung zwischenzeitlich auf genau diese harte Linie.
Schon am 4. Oktober 1989 hatte die DDR-Regierung noch unter Erich Honecker auf die massive Ausreisebewegung mit einer Schließung der Grenzen zur Tschechoslowakei und zu Polen reagiert. Diese drakonische Maßnahme führt aber nur einige Tage später zu den ersten Großdemonstrationen, da durch die wegfallenden Möglichkeiten der Ausreise der Druck im Kessel erheblich ansteigt.
Der DDR-Führung wird schnell klar, dass man die Demonstranten nicht mit Panzern niederwalzen kann, da auch Armee und Polizei zu diesem Zeitpunkt einen Schießbefehl wohl nicht mehr befolgt hätten. Also muss man eine neuerliche Kehrtwende hinlegen und erlaubt ab dem 1. November 1989 den DDR-Bürgern wieder die Ausreise über die Tschechoslowakei. Dies führt nun dazu, dass das »sozialistische Bruderland« an der Südgrenze der DDR tagtäglich mit Tausenden von mitteldeutschen Flüchtlingen konfrontiert ist und deshalb nun seinerseits mit einer einseitigen Grenzschließung droht. Die Frage eines neuen Reisegesetzes hat für die SED-Spitze plötzlich oberste Priorität.
Ein kühner Gesetzesentwurf
In einer vierköpfigen Arbeitsgruppe unter der Leitung von Gerhard Lauter, dem Hauptabteilungsleiter für Pass- und Meldewesen im Innenministerium, erarbeitet man am 9. November 1989 nun unabhängig von den Vorgaben des Politbüros einen Gesetzentwurf, der grundsätzliche Ausreisefreiheit für jeden DDR-Bürger vorsieht – allerdings erst nach Genehmigung eines Visums und eines Reisepasses durch die örtliche Passstelle.
Für den Entwurf legt die Arbeitsgruppe eine Nachrichtensperre bis zum 10. November um 4.00 in der frühen Nacht fest. Gerhard Lauter ist sich nicht sicher, ob er wegen dieses kühnen Vorschlags nicht noch mit Repressionen zu rechnen haben wird. Er bringt den Entwurf am Mittag des 9. Novembers dennoch zu seinem Fahrer, der das Papier schnellstmöglich in das nur wenige 100 Meter entfernte Haus am Werderschen Markt bringen soll, in dem damals das Zentralkomitee der SED untergebracht ist.
In dem Gebäude findet an diesem 9. November 1989 der zweite Tag der 10. Tagung des Zentralkomitees der SED statt, an dem sich 200 führende Genossen in Form hitziger Debatten beteiligen. Der neue Generalsekretär Egon Krenz ist deshalb abgelenkt, als ihm der Entwurf der Arbeitsgruppe von Gerhard Lauter in die Sitzung gereicht wird. Krenz verliest den Entwurf in einer Kaffeepause, in der nur etwa die Hälfte der Mitglieder des Politbüros anwesend sind.
Die dramatische Änderung, die Lauter und seine Leute vorgenommen haben, wird in dem Trubel gar nicht recht wahrgenommen, viele Funktionäre wollen auch möglichst rasch zurück in den Hauptsaal, wo die Debatten toben. Auch Krenz ist in großer Eile, weil er um 14.30 Uhr im Staatsratsgebäude den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Johannes Rau empfangen muss. Gegen 16.00 Uhr kehrt er in das ZK-Gebäude zurück. Hier steht jetzt die Abstimmung im Ministerrat an, dem formal zuständigen Gremium für Gesetzesbeschlüsse. Auch hier debattiert man erst langatmig über Wirtschaftsreformen, bis man zur Reform des Reiserechts kommt, die relativ schnell durchgeht.
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Wichtig ist auch, daß der Politbüro-Pressesprecher Günter Schabowski an beiden Sitzungen nicht teilnimmt, weil er Journalisten betreut – etwas, was zuvor bei SED-Großveranstaltungen nie gemacht wurde. Als Schabowski gegen 17.00 Uhr endlich wieder den Tagungssaal des ZK-Gebäudes betritt und neben Egon Krenz Platz nimmt, schiebt dieser den Entwurf mit der Bemerkung zu ihm hinüber, nun habe er etwas für die Pressekonferenz.
Schabowskis Irrtümer
Eine gute halbe Stunde später referiert Schabowski langatmig über die Debatten im Zentralkomitee, so dass einige Journalisten im überfüllten Gästeraum der Pressekonferenz fast einschlafen. Die Mauer wäre in dieser Nacht in Berlin wohl nicht gefallen, wenn nicht kurz vor 19 Uhr und kurz vor dem Ende der Veranstaltung Riccardo Ehrman, der Korrespondent der italienischen Nachrichtenagentur ANSA, nach der Reform des Reiserechts fragt, die ja nun erklärtermaßen anstehen soll.
Schabowski erinnert sich nun an den Entwurf, den Krenz ihm zugesteckt hat. Minutenlang wühlt er in seiner Arbeitsmappe, in der sich auch zahlreiche andere Papiere befinden, bis er die Beschlussvorlage herauszieht. Er setzt seine Lesebrille auf und trägt – unterbrochen von einunddreißig »Ähs« – den Inhalt des Gesetzesentwurfs vor. Die ganze Prozedur dauert mehr als sieben Minuten. Die mehr als 100 Journalisten in dem Saal sind plötzlich wie elektrisiert. Bei den Nachfragen der Journalisten unterlaufen dem ja auch tatsächlich uninformierten Schabowski mehrere Irrtümer.
Er spricht davon, dass die Regelung »sofort« gilt, dabei hat er selbst gerade die geltende Pressesperre zunichte gemacht. Außerdem spricht er davon, dass die Regelung auch für Berlin gilt, ohne die dafür eigentlich notwendige Konsultation der vier Besatzungsmächte Sowjetunion, Großbritannien, Vereinigte Staaten und Frankreich vorgenommen zu haben.
Zurücknehmen kann er seine Worte nicht mehr – sie wurden live im Fernsehen übertragen. Viele DDR-Bürger, die zugeschaltet haben, können nicht glauben, was sie gehört haben. Nach dem Ende der Pressekonferenz um 19.00 Uhr dauert es jetzt noch genau eine Stunde, bis sich vor dem Grenzübergang Bornholmer Straße, der in dem oppositionell geprägten Ost-Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg liegt, eine kleine Gruppe von 20 bis 30 Neugierigen einfindet, die immer in Richtung Grenze hinüberblickt.
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Harald Jäger, Oberleutnant der DDR-Passkontrolleinheit und an diesem Abend der diensthabende Leiter an der Grenzübergangsstelle, wendet sich telefonisch an seinen direkten Vorgesetzten Rudi Ziegenhorn, der ihm versichert, dass die alten Regelungen weiter gelten. Kurz vor 21 Uhr stehen schon 300 Personen vor dem Grenzübergang und machen ihren Unmut lauthals Luft, da sie zuvor im Fernsehen von einer ab sofort geltenden Reisefreiheit gehört hatten.
Jäger hat nur einige wenige Mitarbeiter um sich und fühlt sich von seinem Vorgesetzten im Stich gelassen, denn es wird für ihn und seine Leute immer schwieriger, die rasch anwachsende und bald unübersehbare Menschenmasse im Zaum zu halten. Um 21.10 Uhr drückt Jäger den Alarmknopf, doch die herbeigerufene massive Verstärkung kommt nicht durch die verstopften Straßen zu ihm durch.
Endlich wird Jäger, selbst ein MfS-Mann, dann zu Gerhard Neiber, dem Stellvertreter von Erich Mielke, durchgestellt. Doch der schnauzt seinen Genossen nur von oben herab an, daß dieser die »Situation« nicht »real einschätzen« könne und wohl »aus Angst« handele. Für Jäger bricht eine Welt zusammen, er fühlt sich komplett im Stich gelassen.
Die Mauer wird gestürmt
Mit Ziegenhorn einigt er sich auf eine »Ventillösung«. Sie sieht vor, daß von nun an Personen, die besonders laut auftreten, über die Grenze gelassen werden, um den mittlerweile herrschenden immensen körperlichen Druck etwas abzumildern. Die betreffenden Personen sollen ein Stempel auf das Foto in ihrem Personalausweis erhalten und nie wieder in die DDR zurückkehren dürfen.
Um 21.30 Uhr ist es so weit. Die deutsch-deutsche Grenze und der Todesstreifen sind gerissen, und die ersten DDR-Bürger gelangen am Übergang Bornholmer Straße nach West-Berlin. Es wird sich zeigen, dass die Zahnpasta nie wieder zurück in die Tube zu bringen ist. Allein in der ersten Nacht überqueren 20.000 DDR-Bürger alleine diese Grenzübergangsstelle. Gegen Mitternacht hat ein erster DDR-Bürger von einer etwas versteckteren Stelle her ‒ um die Wasserwerfer zu umgehen ‒ die Mauerkrone am Brandenburger Tor erklettert und breitet dort die Arme aus. Die DDR-Grenzpolizisten machen auch in dieser Situation keinen Gebrauch von ihrer Schusswaffe. Damit ist die Mauer gefallen.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel stellt die gekürzte Version eines Beitrages aus dem Taschenkalender des nationalen Widerstandes 2019 dar, erschienen im DS-Verlag. Der Taschenkalender für das Jahr 2025 ist ab sofort lieferbar und kann hier bezogen werden: