Kritisches zum 100. Geburtstag des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker
Am 15. April 1920 in Stuttgart geboren und am 31. Januar 2015 in Berlin gestorben, steht Richard von Weizsäcker nicht nur für die Brüche der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, sondern auch für die
Anpassungssucht und nationale Selbstanklage bundesdeutscher „Eliten“.
Moritz Altmann
Er wurde als viertes Kind von Marianne und Ernst von Weizsäcker in eine patriotisch gesinnte Familie hineingeboren. Sein Vater war im Ersten Weltkrieg kaisertreuer Korvettenkapitän, dann Marine-Attaché und stieg später im Auswärtigen Amt auf. Der Spitzen-Diplomat wurde im Dritten Reich Staatssekretär im Auswärtigen Amt und mit einem hohen Ehrenrang der Allgemeinen SS bedacht. Die Mutter war Tochter des königlichen Generaladjutanten Friedrich von Graevenitz aus Württemberg, der während des Ersten Weltkrieges Militärbevollmächtigter im Großen Hauptquartier war.
Ihr jüngster Sohn absolvierte nach seinem Abitur zunächst Sprachstudien in Großbritannien und Frankreich. 1938 und damit im Jahr der Ernennung seines Vaters zum Staatssekretär leistete er seinen Reichsarbeitsdienst und trat den Militärdienst an. Im traditionsreichen Potsdamer Infanterie-Regiment 9, in dem sein Bruder Heinrich als Leutnant diente, bekam er seine Ausbildung und nahm am Polen- und Rußlandfeldzug teil. 1944 beförderte man ihn zum Hauptmann und verlieh ihm das Eiserne Kreuz I. Klasse. Im Frühjahr 1945 wurde er in Ostpreußen verwundet und in einen Genesungsurlaub geschickt, wo er im Mai von der Kapitulation der Wehrmacht erfuhr. Im deutschen Schicksalsjahr 1945 nahm er ein Jurastudium in Göttingen auf.
Zusammen mit anderen Führungsleuten des Auswärtigen Amtes wurde sein Vater Ernst im sogenannten Wilhelmstraßen-Prozeß (1947-49) von den Siegermächten angeklagt und wegen einer unterstellten Mitwirkung an Judendeportationen und damit Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einer letztlich fünfjährigen Haftstrafe verurteilt. Richard, der als Assistent der Verteidigung seinem Vater in Nürnberg zur Seite stand, empfand den Schuldspruch zeitlebens als historisch und moralisch ungerecht.

1954 trat der aufstrebende Jurist in die CDU ein und machte zunächst in der Privatwirtschaft Karriere. Von 1966 bis 1984 gehörte er dem Bundesvorstand der CDU an. In diesen Jahren war er zudem Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche Deutschlands. 1969 wurde Richard von Weizsäcker Bundestagsabgeordneter und saß bis 1981 im Parlament, zuletzt als Vizepräsident. In den 1970er Jahren entstand unter seiner Leitung das neue Grundsatzprogramm seiner Partei. In den Jahren 1981 bis 1984 bekleidete er das Amt des Regierenden Bürgermeisters von Berlin und war von 1984 bis 1994 als Bundespräsident der höchste Repräsentant der Bundesrepublik. Er war der sechste Mann in der Villa Hammerschmidt und das erste Staatsoberhaupt des vereinten Deutschlands. Obwohl er auf dem Ticket der CDU Karriere machte, fremdelte er nicht selten mit Positionen der damals noch halbwegs konservativen Union und war eigentlich ein Linksliberaler.
Das zeigte sich auch in der Asylpolitik, die in den Jahren 1991/92 wegen der bis dato größten Asyl-Invasion die innenpolitische Debatte bestimmte. Als Reaktion auf den wachsenden Widerstand gegen die Asylantenflut absolvierte die Politprominenz reihenweise Solidaritätsbesuche in Asylantenheimen mit dem Bundespräsidenten an der Spitze. Folgerichtig wurde der 1992 mit dem Nansen-Flüchtlingspreis für Einzelpersonen und Organisationen geehrt, die sich besonders für die Interessen von „Flüchtlingen“ einsetzen. Seine pro-migrantische Überzeugung kleidete er in den pragmatisch klingenden Satz: „Asyl ist für Menschen, die uns brauchen, Einwanderung ist für die Menschen, die wir brauchen.“ Deutschland brauchte aber schon damals keine Migration, sondern eine Remigration.
Im Rahmen der Antrittsbesuche bei den Präsidenten der Westalliierten zeigte von Weizsäcker als Berliner Bürgermeister eine besondere Gefallsucht und Anpassungsbereitschaft. Das Ehrenmitglied des deutsch-amerikanischen Lobbyvereins Atlantik-Brücke gehörte zahlreichen transatlantisch ausgerichteten Denkfabriken und Institutionen an und wurde auch deshalb mit internationalen Auszeichnungen und Ehrendoktorwürden überhäuft.
Offenbar geblendet von der Anerkennung des Auslandes und den Schmeicheleien auslandshöriger Landsleute nutzte das Staatsoberhaupt seine Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, um einen fatalen geschichtspolitischen Paradigmenwechsel einzuläuten. Bis dato schreckten die meisten bundesdeutschen Politiker davor zurück, die militärische Niederlage Deutschlands als allgemeine „Befreiung“ abzufeiern. Es lebten einfach noch zu viele aus der Erlebnisgeneration, die die komplexe Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges, die Kriegsverbrechen der Alliierten und das millionenfache Sterben Deutscher nach Einstellung der Kriegshandlungen kannten. Sie verbanden mit dem 8. Mai 1945 höchstens die „Befreiung“ von Leben und Gesundheit, Heimat, Eigentum und Würde. Einige Bundestagsabgeordnete hatten schon vorher einen Blick in das Redemanuskript werfen können und wie der Bundestagsabgeordnete Lorenz Niegel (CSU) ihre Teilnahme abgesagt. Franz Josef Strauß verhöhnte von Weizsäcker später als „Spezialgewissensträger“, der die „ewige Vergangenheitsbewältigung als gesellschaftliche Dauerbüßeraufgabe“ ansehe.

Der so Kritisierte glaubte wohl, daß es ihm als Kind eines vom Nürnberger Siegertribunal schuldig gesprochenen „Kriegsverbrechers“ zukomme, den Deutschen ihre totale Niederlage als Befreiung zu verkaufen. Zum 40. Jahrestag der Kapitulation der Wehrmacht bezeichnete er am 8. Mai 1985 in einer Gedenkstunde des Bundestages den 8. Mai 1945 als „Tag der Befreiung“, der „uns alle“ von „dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ befreit habe. Wir Deutsche hätten „wahrlich keinen Grund, uns am heutigen Tag an Siegesfesten zu beteiligen. Aber wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen“, heißt es in selbstanklägerischem Ton.
Davon, daß der Zweite Weltkrieg „viele Väter“ hatte, wie es Gerd Schultze-Rhonhof formulierte, wollte der ehemalige Wehrmachtsoffizier nichts mehr wissen. Er ließ als Vorgeschichte des Völkerbrandes nur den 30. Januar 1933, den Tag der nationalsozialistischen Machtübernahme, gelten: „Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen. (…) Es war Hitler, der zur Gewalt griff. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bleibt mit dem deutschen Namen verbunden.“ Den 28. Juni 1919, an dem Deutschland unter Androhung der militärischen Besetzung zur Annahme des Versailler Vertrages gezwungen wurde, erwähnte der „Festredner“ im Bundestag nicht. Dabei sind zahlreiche Historiker überzeugt, daß die Nationalsozialisten ohne die Agitation gegen diesen zutiefst ungerechten und demütigenden Zwangsfrieden niemals an die Macht gekommen wären. Der frühere Reichaußenminister Joachim von Ribbentrop und Chef Ernst von Weizsäckers sagte kurz vor seiner Hinrichtung durch die Sieger: „Man vergesse nicht, daß der Nationalsozialismus zur Macht kam, weil man Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg keine Chance gab und es politisch und wirtschaftlich dem Abgrund zutreiben ließ. Der Zweite Weltkrieg entstand nicht zuletzt deshalb, weil es auch Adolf Hitler nicht möglich gemacht wurde, die politische und wirtschaftliche Existenzgrundlage des Reiches auf dem Wege freundschaftlicher Vereinbarungen mit der Umwelt zu sichern.“
Den Siegermächten des Ersten und Zweiten Weltkrieges eine Mitschuld am Aufstieg Hitlers zu geben, lag von Weizsäcker natürlich fern. Zwar erwähnte er auch Leiden und Opfer des deutschen Volkes, relativierte sie aber zugleich mit Verweis auf das größere Leid anderer und die angebliche deutsche Alleinschuld am Kriegsausbruch. Selbst die historisch beispiellose Vertreibung von mehr als 12 Millionen Ost- und Sudetendeutschen aus ihren jahrhundertealten Siedlungsgebieten, von denen auf der Flucht schätzungsweise zwei Millionen starben, bagatellisierte der CDU-Politiker als „erzwungene Wanderschaft von Millionen Deutschen“.
Seine Rede schloß er mit einem parolenhaften Appell zur Menschheitsverbrüderung: „Hitler hat stets damit gearbeitet, Vorurteile, Feindschaften und Haß zu schüren. Die Bitte an die jungen Menschen lautet: Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Haß gegen andere Menschen, gegen Russen oder Amerikaner, gegen Juden oder Türken, gegen Alternative oder Konservative, gegen Schwarz oder Weiß. Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander.“
Aussöhnung und Frieden kann es aber nur auf der Basis historischer Wahrhaftigkeit geben. Zur historischen Wahrheit gehört, daß selbst die Siegermächte die Unterwerfung und Besetzung Deutschlands nicht als Befreiung ansahen. „Deutschland wird nicht besetzt zum Zweck seiner Befreiung, sondern als ein besiegter Feindstaat“, hieß es unmißverständlich in der Direktive JCS 1067 der US-Army vom April 1945.
Nach dem Tod des Altbundespräsidenten im Januar 2015 würdigte ihn Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in den höchsten Tönen. „Wie er von 1984 bis 1994 sein Amt ausgeübt hat, das hat Maßstäbe gesetzt“, erklärte sie. „Richard von Weizsäcker war eine der wichtigsten und geachtetsten Persönlichkeiten unseres Landes.“ Sein Tod sei ein großer Verlust für Deutschland, und man verdanke ihm richtungsweisende Reden. Es ist völlig klar, an welche geschichtsklitternde Rede der nationalen Selbstbeschmutzung sie gedacht hat.