An den großen abendländischen Universitäten des Mittelalters hatten sich die Studenten aus Gründen des Zusammengehörigkeitsgefühls und der gegenseitigen Hilfe in landsmannschaftlichen Gruppen, den sogenannten Bursen, zusammengeschlossen. Aus diesen studentischen Gemeinschaften entwickelten sich im 18. und 19. Jahrhundert die heutigen Corps, Landsmannschaften und Burschenschaften. Neben gemeinsamen Wertvorstellungen, z.B. dem Lebensbund-Prinzip und dem im Gedanken der Ehre und Wehrhaftigkeit wurzelnden Waffen-Studententum, unterschieden sich die Korporationen aber im Grad ihres politischen Veränderungswillens. Im Gegensatz zu den eher geselligkeitsorientierten Corps und Landsmannschaften waren Burschenschafter seit Gründung der »Urburschenschaft« am 12. Juni 1815 von dem politischen Traum beseelt, die jahrhundertealte staatliche Zersplitterung der deutschen Nation zu überwinden und die nationalstaatliche Einheit aller Deutschen herbeizuführen.
Viele der späteren Burschenschafter waren zudem als Freiwillige in den Krieg gegen die französische Fremdherrschaft gezogen und hatten für die Idee eines einigen und freien Vaterlandes ihr Blut vergossen. Nach den Opfern der Kriegsjahre widersetzten sich viele studentische Kriegsheimkehrer den Beschlüssen des Wiener Kongresses von 1815, der im Interesse der Fürsten eine Verzwergung Deutschlands in 38 Teilstaaten festschrieb.
Die Restaurationszeit nach dem Wiener Kongreß trieb viele Burschenschafter in den politischen Widerstand. Das Wartburgfest im Oktober 1817, das Hambacher Fest 1832, die Revolution 1848 und die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche waren Höhepunkte der burschenschaftlichen Bewegung und mündeten am 18. Januar 1871 in die Gründung des (zweiten) deutschen Kaiserreiches als Nationalstaat.
Was ging der Gründung der »Urburschenschaft« vor zweihundert Jahren voraus? Der Kampf gegen Napoleon und die französische Fremdherrschaft entfachte die nationalen Leidenschaften und wurde zur Initialzündung eines neuen deutschen Einheits- und Solidargefühls jenseits landmannschaftlicher, sozialer und konfessioneller Schranken. Die aufwühlenden Ereignisse der Zeit veränderten auch das Gemeinschaftsleben der national und freiheitlich gesinnten Studenten.
Bereits um 1810 entwarfen Friedrich Friesen und Friedrich Ludwig Jahn den Plan einer deutschen Burschenschaft, die alle Sonderinteressen ausschließen und das Studententum »moralisch verbessern und den deutschen Sinn beleben« sollte, um das mentale Rüstzeug für den Befreiungskrieg zu liefern.
Begeistert meldeten sich Studenten aus allen Teilen Deutschlands zu den Waffen und dienten etwa im Lützowschen Freikorps, dessen schwarze Uniform mit roten Aufschlägen und goldfarbenen Knöpfen maßgeblich die deutsche Fahne aus Schwarz-Rot-Gold inspirierte. Im Freikorps Lützow wurden die nationalrevolutionären Ideen Jahns und Friesens weiterentwickelt und in eine schlagkräftige militärische Form gegossen. Schon kurz nach dem Sieg über Napoleon entstand im November 1814 in Halle eine Verbindung namens Teutonia, die die Bezeichnung Burschenschaft aufgrund ihrer starken landsmannschaftlichen Prägung aber noch nicht verdiente.
Die Ideen des nationalen Feuerkopfes Ernst Moritz Arndt führten im Westen und Südwesten Deutschlands zur Entstehen von Studentenverbindungen in Gießen, Heidelberg und Marburg, die als Vorgänger der Burschenschaft bezeichnet werden können. Aus den 1814 im Rhein-Main-Gebiet gegründeten »Deutschen Gesellschaften« formte sich ein politischer Geheimbund, der eine Einigung Deutschlands unter preußischer Führung sowie eine freiheitliche Verfassung anstrebte. Der preußische Staatskanzler Hardenberg förderte die Gedanken dieses »Deutschen Bundes«, der in Südwestdeutschland schnell Anhänger fand.
In Jena bildeten im August 1814 die aus dem Felde zurückgekehrten Studenten eine »Wehrschaft«, die sich im Waffengebrauch übte und aus Angehörigen zahlreicher landsmannschaftlicher Verbindungen bestand. Die Vorreiterrolle für die Gründung einer allgemeinen Verbindung übernahm die Landsmannschaft Vandalia. Nach erbitterten politischen und waffenstudentischen Auseinandersetzungen via Mensur ließen sich auch die anderen Landsmannschaften für den Gedanken einer großen deutschen Burschenschaft zur Vorwegnahme eines nationalstaatlich geeinten Deutschlands gewinnen. Am 12. Juni 1815 war es dann soweit: Nachdem der Senioren-Convent im Mai die Auflösung beschlossen hatte, senkten sich vor der Gastwirtschaft »Tanne« die Fahnen der Landsmannschaften als Zeichen ihres Aufgehens in der Burschenschaft.
Das Neue der Burschenschaft im Vergleich zu den früheren Landsmannschaften lag nicht so sehr in veränderten korporativen Umgangsformen, sondern im politischen Anspruch und dem konkreten Einsatz für das ganze deutsche Volk in einem konstitutionellen Nationalstaat. Die Erziehung von freien, sittlich gefestigten und nationalgesinnten Verantwortungsträgern wurde Leitprinzip der jungen burschenschaftlichen Bewegung und ist es bis heute geblieben.
Die Schüler von Jahn und Fichte, Friesen und Arndt wollten die kleinstaatliche Zersplitterung Deutschlands und eine obsolet gewordene Fürstenherrschaft nicht länger hinnehmen. Sie forderten damit gewissermaßen die Dividende ihres opferbereiten Einsatzes in den Befreiungskriegen ein. »Als ein Bild ihres in Freiheit und Einheit erblühenden Volkes« wollte die Burschenschaft Vorkämpferin gegen die nationale Zerrissenheit sein. »Die Reinheit der deutschen Sprache, die Ehrbarkeit der deutschen Sitten, die Eigenart deutschen Brauchs, überhaupt alles zu fördern, was Deutschland groß und stark, den deutschen Namen rühmlich und gefürchtet machen konnte«, wurde vornehmstes Ziel der Urburschenschaft.
Mit diesem idealistischen Volks- und Vaterlandsdenken und der Zurückweisung übersteigerter individualistischer und weltbürgerlicher Tendenzen erwiesen sich die Urburschenschafter als wahre Erben der Romantik. Vor 200 Jahren wurde der Dreiklang von Ehre, Freiheit und Vaterland in eine organisatorische Form gegossen, die bis heute Bestand hat und noch in der Gegenwart deutsche Studenten entflammt.
Jürgen Gansel